Wiederaufnahme abgeschlossener Strafverfahren
Strafverfahren sind ernste Angelegenheiten. Wird jemand wegen einer schweren Straftat, beispielsweise Mord, verdächtigt, ist bereits der bloße Vorwurf psychisch belastend und oftmals rufschädigend. Zwar gilt vor Gericht der Grundsatz der Unschuldsvermutung; in der Öffentlichkeit oder im privaten Umfeld schützt dieser aber nur bedingt vor Stigmatisierung. Letztinstanzliche Urteile klären daher nicht nur Rechtsfragen, sondern sollen, sofern sie mit einem Freispruch enden, den Verdächtigten auch sozial rehabilitieren.
Diesem Zweck dient der Grundsatz „ne bis in idem“ (zu deutsch: Nicht zweimal in derselben Sache) nach Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz (GG). Nach ständiger Rechtsprechung muss das Strafverfahren mit dem letztinstanzlichen Urteil ein endgültiges Ende finden. Die Wiederaufnahme abgeschlossener Strafverfahren war deshalb bisher nur bei gravierend mangelhaften Gerichtsverfahren (z.B. bei einem bestochenen Richter) oder bei einem nachträglichen Geständnis des Freigesprochenen möglich, § 362 Strafprozessordnung (StPO).
Gesetzesänderung: Wiederaufnahme von Mordverfahren künftig leichter
Es gibt jedoch Fälle, in denen diese Wiederaufnahmegründe unzureichend erscheinen können. Tauchen nach Abschluss des Strafverfahrens beispielsweise neue Zeugen auf oder ermöglicht technischer Fortschritt neue Beweiserhebungen, so bliebe es nach derzeitiger Rechtslage beim Freispruch. Selbst bei so gravierenden Straftaten wie Mord oder Völkermord.
Dem soll eine Gesetzesänderung Abhilfe schaffen. Bei neuen, erheblichen Beweisen ist es danach möglich, Strafverfahren wiederaufzunehmen, sofern ein Mord oder ein ähnlich schwerwiegendes Delikt nach dem Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) im Raum steht. Dass ein Mörder sich künftig nicht mehr hinter einem rechtskräftigen Freispruch verstecken kann, mag, vor allem für Angehörige des Opfers, gut und gerecht erscheinen. Immerhin ist auch im Falle eines Strafbefehls eine Wiederaufnahme ohnehin möglich. In verfassungsrechtlicher Hinsicht ist die aktuelle Gesetzesänderung allerdings hoch umstritten.
Erweiterung der Wiederaufnahmegründe schon lange umstritten
Kritiker der Reform sprechen von einem Verstoß gegen den ne bis in idem-Grundsatz. Der neue Wiederaufnahmegrund führe dazu, dass selbst letztinstanzliche Freisprüche in Mordverfahren nur unter Vorbehalt erteilt würden. Es sei den Verdächtigten somit unmöglich, sich vollständig zu rehabilitieren. Dies treffe vor allem die zu Unrecht Beschuldigten. So ist insbesondere zu bedenken, dass selbst neue, glaubhafte Zeugen die Schuld des Freigesprochenen nicht zwingend beweisen. Die Schuld kann vielmehr nur vor Gericht ermittelt werden, das seinerseits den vor dem Gesetz und womöglich tatsächlich Unschuldigen erneut den Strapazen eines Strafverfahrens aussetzt.
Missbrauchsgefahr und Dammbruch im Wiederaufnahmerecht?
Kritisch ist auch die Missbrauchsanfälligkeit der Gesetzesänderung. Zwar kann die Staatsanwaltschaft einen Wiederaufnahmeantrag nur auf den Mordverdacht stützen. Wird dem Antrag jedoch stattgegeben und ein neues Gerichtsverfahren aufgerollt, so findet dies völlig unabhängig von den Antragsgründen statt. Dies bedeutet: Das Gericht kann den (erneut) Angeklagten nicht nur wegen Mordes, sondern wegen allen in Betracht kommenden Straftaten verurteilen. Stellt sich also heraus, dass die Mordvoraussetzungen nicht erfüllt sind, so ist auch eine Verurteilung wegen Totschlags oder gar fahrlässiger Tötung möglich.
Das öffnet Tür und Tor für gezielten Missbrauch des neuen Wiederaufnahmegrundes. Selbst wenn der Staatsanwaltschaft im Voraus klar ist, dass eine Tötung beispielsweise nicht vorsätzlich geschah und die Wiederaufnahme somit eigentlich ausscheidet, kann sie den Vorsatz in ihrem Wiederaufnahmeantrag mithilfe von Indizien behaupten. Wird dann eine neue Gerichtsverhandlung anberaumt, kann sie den Mordvorwurf fallen lassen und auf eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung hinarbeiten. Zwar ist die Staatsanwaltschaft von Gesetzes wegen als „objektivste Behörde der Welt“ ausgestaltet, die Missbrauchsgefahr verhindert das aber nicht.
Zusätzlich ist denkbar, dass die Wiederaufnahme bei neuen Beweisen in Zukunft auch bei anderen Delikten als den nun vorgesehenen ermöglicht wird. Zwar sind bis dato keine entsprechenden Gesetzespläne bekannt. Verfolgt man jedoch den Gerechtigkeitsgedanken zu Ende, so erscheint es seltsam, dass ein neues Strafverfahren gegen einen vermeintlichen Mörder, nicht aber etwa gegen einen vermeintlichen Totschläger, Brandstifter oder gar Betrüger möglich ist. Die derzeitige Gesetzesänderung wäre damit eine Blaupause für weitere Einschränkungen der Rechte des Beschuldigten.
Fazit: Verfassungsbeschwerde wegen neuem Wiederaufnahmegrund vorprogrammiert
Künftig wird die Wiederaufnahme von für den Betroffenen hoch belastenden Strafverfahren bei Mord und ähnlich schweren Vorwürfen vereinfacht möglich sein. Eine Ausdehnung auf andere Delikte ist nicht ausgeschlossen. Man kann sicher sein, dass der neue Wiederaufnahmegrund früher oder später das Bundesverfassungsgericht beschäftigen wird.
Sind Sie oder Verwandte Beschuldigte in einem Strafverfahren oder befürchten Sie gar die Wiederaufnahme eines abgeschlossenen Strafverfahrens? Kontaktieren Sie uns gerne. Wir übernehmen Ihre Verteidigung und stellen sicher, dass Ihre verfassungsmäßig garantierten Rechte geachtet werden.